Notizen von Petty Officer Loughlin MacPherson
betreffend "Destiny"

Loughlin saß im Schneidersitz auf dem Boden ihres Quartiers, die Hände gefaltet bis auf die Zeigefinger, die flach aufeinander lagen, die Augen geschlossen. Eine einzelne Kerze stand vor ihr, deren sanft flackerndes Licht als einzige Beleuchtung diente. In tiefer Meditation versuchte sie sich so genau wie möglich an den mentalen Kontakt mit Destiny zu erinnern.

Destiny... Schicksal...
Man mußte schon anfangen, an ein solches zu glauben, in Anbetracht der Ereignisse. Wenn sie bedachte, was allein in ihrem Leben hatte passieren müssen, damit sie sie jetzt, zu dieser Zeit, an diesem Ort war, und konnte was sie konnte...
Damals, als ihre Zukunftspläne von einer Energieentladung jäh zerrissen worden waren, hatte sie das Schicksal oft verflucht... zumindest, bis James ihr diesen anderen Weg gezeigt hatte, das zu tun, was sie am meisten wollte... Mit der Zeit hatte sie dann wieder ihren Platz im Leben gefunden. Und jetzt... jetzt war es so, wie sie zu Javert gesagt hatte: „Kennen Sie das Gefühl, genau da zu sein wo Sie sein sollten...“
Ein warmes Lächeln umspielte für einen Moment ihre Lippen.

Dann wurde ihr Gesichtsausdruck wieder hochkonzentriert. Sie hatte eine Mission...
Bilder einer fremdartigen Kultur zogen vor ihrem inneren Auge vorbei. Wann immer ein Bild besonders deutlich hervortrat, versuchte sie es festzuhalten und dann so genau wie möglich zu beschreiben. Der Computer war angewiesen, alles auszuzeichnen, was sie sagte. Sie hoffte, so einen Hinweis auf den „Tresor des Wissens“ zu finden. Außerdem war sie sich sicher, daß Wissenschaftler wie van Ameling alles über diese alte Kultur wissen wollten.

Sie hatte einen Einblick in eine vergangene Kultur geschenkt bekommen, für die der ein oder andere Archäologe, Anthropologe und wie sie alle hießen vermutlich gern seinen rechten Arm geopfert hätte. Deshalb sah sie es als ihre Pflicht an, ihr Wissen in eine für jeden zugängliche Form zu bringen.
Zu schade, daß man die Bilder in meinem Kopf nicht einfach fotografieren kann. Das würde vieles vereinfachen...
Sie atmete einmal tief durch, und begann zu sprechen, ohne die Augen zu öffnen:
„Ich sehe eine Stadt. Alle Gebäude sind weiß, mit vielen Fenstern. Rund ist die dominierende Form. Ein Gebäude sieht aus wie eine Kugel, die zu etwa 2/3 aus dem Boden ragt. Ein anderes sieht aus wie eine mehrstöckige Torte. Hohe Türme ragen in den blauen Himmel. Auch sie sind rund, und verjüngen sich nach oben hin. Aber nicht regelmäßig, so daß eine Kegelform entsteht, sondern in fließend ineinander übergehenden Stufen. Weite Grünflächen befinden sich zwischen den Gebäuden, und teilweise auch auf niedrigen Dächern. Andere Dächer sind kuppelförmig. Einzelne Gebäude oder Türme sind verbunden durch längliche Gebäude. Eine breite Brücke führt über ein Gewässer, das vor der Stadt liegt. Kleine Fahrzeuge sind darauf zu erkennen. Die Straße scheint vor der Stadt in eine Art Tunnel zu führen. Ich vermute, der Verkehr läuft unterirdisch, um das Stadtbild nicht zu stören. Alles wirkt sehr... ästhetisch.“



Es war schon seltsam... zeitweise hatte sie die Empathen beneidet, für ihren unmittelbaren Einblick in die mentale Welt um sie herum. Vielleicht lag es auch daran, daß sie durchaus die genetischen Voraussetzungen für Empathie mitbrachte - ihre Schwester war Empathin - die genetische Lotterie aber anders entschieden hatte... Ob die Empathen nun sie beneideten, für ihren tieferen Einblick in die mentale Welt? Manches von dem, was Javert gesagt hatte, könnte so ausgelegt werden... Loughlin schmunzelte ob der Ironie... wäre sie Empathin, würde sie es wissen...
Ein weiteres Bild manifestierte sich vor ihr, wurde klar und deutlich. Hände, ihre/Destinys Hände, griffen in eine Schatulle und nahmen den goldenen Gürtel heraus, den sie die ganze Zeit getragen hatte. Allerdings war er auf dem Bild noch neu und unbeschädigt. Große Freude ging mit diesem Bild einher. Verlobung... Ja, dieses Wort traf es wohl am besten. Er hatte ihr den Gürtel geschenkt... Große Traurigkeit folgte, ließ Loughlin einmal scharf einatmen, bevor sie sich innerlich ausreichend von dem Gefühl distanzieren konnte. Destiny hatte sich nicht einmal mehr an seinen Namen erinnern können, und das hatte sie sehr traurig gemacht. Ihre ganze Situation hatte sie sehr traurig gemacht...



Es kostete Loughlin eine gehörige Anstrengung, sich nicht von der Trauer, die nicht einmal ihre eigene war, übermannen zu lassen. Mehr Training... Wenn ich sowas öfter machen soll, brauche ich unbedingt mehr Training...
Es war noch gar nicht solange her, daß sie es zum ersten Mal geschafft hatte, eine Gedankenver-schmelzung herbeizuführen. Für großartiges mentales Training war nicht mehr viel Zeit gewesen... Mist... ein bißchen mehr vulkanische Disziplin wäre manchmal ganz hilfreich...
Einen tiefen Atemzug später hatte sie sich wieder so weit unter Kontrolle, daß sie sich bewußt aus der Ich-Perspektive zurückziehen, wieder nur neutraler Beobachter sein konnte. Ihre Stimme zitterte nur ein wenig, als sie sagte:
„Es gab so etwas wie Hochzeiten, und Verlobungen. In dem einen Fall, den ich kenne, erhielt die Frau vom Mann ein Verlobungsgeschenk in Form eines goldenen Gürtels, oder auch Schals; sie trug diesen... dieses Stoffband... auf beiden Arten, während ihrer Zeit bei uns.“
Sie war noch recht jung gewesen... Eine junge Frau, deren Leben gerade begann, sich zu entfalten... Die gerade dabei war, eine Familie zu gründen... sich zu überlegen, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte... Dann hatte der Krieg alles verändert. Sie war ausgewählt worden, die Warnung ihres Volkes in die Zukunft zu tragen. Der junge Mann, ihr Verlobter, war einer derer gewesen, die gestorben waren, um sicherzustellen daß sie ihre Mission erfüllen konnte...
Ein weiterer jäher Schub von Trauer und Verzweiflung brach über Loughlin herein, und sie tat das einzig richtige... sie brach die Meditation ab, zog sich völlig von den Erinnerungen zurück.



Schwer atmend rang sie für einen Moment um ihre Fassung, starrte an die Wand und versuchte die immer noch vor ihren Augen flackernden Bilder zu ignorieren. Schließlich vergrub sie ihr Gesicht in den Händen. Ihre Wangen fühlten sich feucht an...
Sie saß still da, für etwa eine Minute, dann richtete sie sich wieder auf. Mit der linken Hand fuhr sie sich einmal übers Gesicht und wischte die Tränen weg. Ihr Blick fokussierte kurz auf die Kerze, dann wanderte er in die Ferne.
Jetzt, mit genügend Abstand zu Destinys Erinnerungen, holten sie ihre eigenen wieder ein.
Ihre Gedanken glitten zurück zu jenem Moment, als es zuende ging. Als Destiny noch einmal hochschreckte, weil ihr noch etwas wichtiges eingefallen war... Als Loughlin versucht hatte, in der Hektik des Augenblicks noch einmal eine Verbindung zu Destiny herzustellen, nur um zu spüren, wie deren Leben ihr durch die Finger glitt...
Zu spät...
Oder vielleicht auch nicht. Es war Destiny noch gelungen, ihnen mitzuteilen, daß es den „Tresor des Wissens“ gab. Damit hatte eine Suche begonnen. Und ein Erfolg dieser Suche würde alles relativieren.Loughlin seufzte und stand auf - kein leichtes Unterfangen, nachdem sie längere Zeit im Schneidersitz am Boden gesessen war - und hievte sich in den Stuhl vor ihrem Terminal. Mal sehen, ob der Computer mit Hilfe ihrer Beschreibungen ein paar Bilder von Destinys Heimat erstellen konnte...